Die Musik dieser Band (oder dieses Projekts) ist eigentlich kaum zu kategorisieren. Hatte ich sie aufgrund eines Beitrags auf dem großartigen Neofolk-Sampler “Whom The Moon A Nightsong Sings“ (das Akustikgitarrenstück „Krähenkönigin III“) - auf den ich vor gut vier Jahren hier im Forum (ich glaube, durch Manuel) aufmerksam wurde - noch klar in der Neofolk-Ecke verortet, so bot sich mir beim Kauf der Alben doch nach und nach ein ganz anderes Bild und eine Wundertüte nach der anderen öffnete sich mir.
Neofolk, Klassik, World Music, Jazz, Progressive Rock und auch etwas Metal (immer sehr sparsam eingesetzt, meist nur um kurz Kontraste zu setzen) - all das findet man im musikalischen Gesamtschaffen von Nucleus Torn in unterschiedlichen Gewichtungen und Zusammensetzungen (nicht selten auch alles davon auf einem Album).
Ich behaupte mal, es gibt nichts Vergleichbares, aber Fans von neueren OPETH, ÄNGLAGÅRD, KING CRIMSON oder auch von "Night Of Hunters" von TORI AMOS, die außerdem eine gewisse Folk-Affinität und Lust auf musikalische Abenteuer haben, sowie Geduld bei ausgedehnten ruhigen Passagen mitbringen, kann ich die Musik nur wärmstens empfehlen!
Aber der Reihe nach (hab mir die Alben zwar nicht in chronologischer Reihenfolge besorgt, gehe hier aber mal nach der Reihenfolge vor, in der die Sachen veröffentlicht bzw. aufgenommen wurden.)

Bereits 1998 nahm der schweizer Multiinstrumentalist Fredy Schnyder vier Stücke unter dem Titel “Krähenkönigin” auf, die allerdings erst 2004 erstmals als 10”-EP veröffentlicht wurden. Obwohl hier noch alles ausschließlich auf einer Akustikgitarre gespielt wurde, ist das Ergebnis wirklich nicht langweilig, sondern bietet verträumte aber nicht eintönige Musik, irgendwo zwischen Neofolk und Neoklassik, die Bilder vorindustrieller Zeiten vor dem geistigen Auge entstehen lässt.
Wer mit dem ersten Album von JIM MATHEOS etwas anfangen, und sich eine noch spartanischere Instrumentierung vorstellen kann (keine Streicher), der sollte hier zumindest mal reinhören.

Doch Fredy hatte offenbar noch ganz andere musikalische Ideen, von denen er einige wohl direkt nach den ersten Aufnahmen zu entwickeln begann. Das Ergebnis veröffentlichte er 2000 oder 2001 in Eigenregie als CD-R-EP mit dem Titel “Silver”. Diesmal übernahm er neben Akustikgitarren auch noch E-Gitarre, Bass, Percussion und Keyboards und holte sich außerdem in Form des Sängers Patrick Schaad und des Schlagzeugers Christopher Steiner Verstärkung (beide unterstützten ihn auch bei fast allen noch folgenden Aufnahmen).
Während der ruhige Opener noch ganz im Stil von “Krähenkönigin” ist, bietet “Witness” nach ruhigem Anfang mit Akustikgitarre und Gesang dann auch Schlagzeug und E-Gitarre und entwickelt dadurch zeitweise eine gewisse Härte, die ich zwar noch nicht als “metallisch”, aber durchaus als gelungenen Kontrast zu den Akustikpassagen bezeichnen würde. Im neuneinhalb-minütigen, sich langsam aufbauenden “Nucleus Torn” zeigen sich auch schon nette Spannungsbögen die von unerwarteten, teils disharmonischen Zwischenspielen unterbrochen werden.

“Submission” (2002) nennt sich dann die zweite in Eigenregie veröffentlichte EP (die dritte aufgenommene) und setzt die musikalische Reise in etwa den gleichen Bahnen fort, wobei hier erstmals teilweise auch ein leichter orientalischer Einschlag zu hören ist. Das Instrumentarium hat sich außerdem um Irish Bouzouki, Mandoline und Piano erweitert, die Musik ist hier und da noch unvorhersehbarer geworden, hat aber nichts an Atmosphäre verloren.
Bereits vor dem Debütalbum zeigt sich hier also schon ein sehr interessantes Projekt, dass seine spätere kompositorische Genialität meiner Meinung nach aber noch nicht ganz offenbart.

Die drei EPs wurden übrigens dann 2010 zusammen mit zwei neuen Stücken (die allerdings auch bereits 2003 geschrieben wurden) unter dem Namen “Travellers” über Prophecy auf CD rausgebracht.
Das erste exklusive Stück, “Leadless” klingt recht untypisch (wobei, was ist hier denn schon untypisch zu nennen) und wirkt sehr orientalisch inspiriert, allerdings mit zwei Saxophonsoli in der zweiten Hälfte! Außerdem sind hier noch Oud und Hackbrett (ja, das ist ein Musikinstrument ) zu hören.
Der andere, “Lurking” genannte, Song klingt anfangs noch etwas typischer, erinnert mich aber nach dem folkloristisch anmutenden Anfang durch nach Mellotron klingenden Keys teilweise fast schon an die letzten beiden OPETH (die es damals ja noch gar nicht gab).

Aber erst mal wurde 2006 das Debütalbum, "Nihil" über dieselbe Plattenfirma veröffentlicht (Vinylversion über Nachtgnosis), bzw. kurz vorher gab’s wohl noch eine Eigenproduktion davon.
Hier wurde das Instrumentarium z.B. noch um Flöte, Kontrabass, Geige und Cello erweitert und mit Maria D'Alessandro unterstützt eine wirklich betörend klingende Sängerin Sänger Patrick Schaad, außerdem treten E-Gitarren und vor allem Schlagzeug etwas öfter in Aktion (allerdings werden die Rock- oder zumindest Metal-Gitarren immer noch sehr sparsam eingesetzt). Die Produktion ist ein Traum, die akustischen Instrumente wirken sehr natürlich, die E-Gitarren im Kontast dazu extrem verzerrt, sodass hier erstmals eine gewisse Härte auftritt (allerdings klingen die meisten E-Gitarren-Parts hier eher nach experimentellem Alternative Rock als nach Metal, wobei hier und da auch mal Riffs ein wenig nach Black Metal klingen).
Kompositorisch haben NUCLEUS TORN hier meiner Meinung nach zu den EPs einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht.
Die Neofolk-Elemente sind aber immer noch etwas dominanter als die harten Passagen, jedoch kommen einem hier erstmals auch etwas deutlicher Progressive Rock Bands wie KING CRIMSON in den Sinn (die Fredy wohl sehr verehrt), denn die Musik ist noch verschachtelter und komplexer geworden, außerdem werden die Songs durch extreme Laut-Leise-Dynamik äußerst spannend gehalten.

2008 erblickte das zweite Album, "Knell" das Licht der Welt und bietet wieder einige Neuerungen.
Bis auf das letzte Stück enthält hier (zum ersten und letzten Mal) jeder Song neben den üblichen folkloristisch-weltmusikartigen Momenten auch relativ viele harte Passagen, die hier nun meist an atmosphärischen Black Metal erinnern - allerdings ohne extremen Gesang, sondern ausschließlich mit melodischem - den sich hier erneut Maria und Patrick teilen. Ich würde hier mal schätzen, dass von der Gesamtspielzeit etwa ein Drittel der Musik metallischer Art ist (das ist schon mit Abstand der größte Anteil in der gesamten Diskografie), womit dieses Album eventuell noch die meisten Leute aus diesem Forum ansprechen könnte. Hier findet auch immer ein sehr spannender Wechsel aus ruhigen und härteren Momenten statt. Selbst einen kurzen Blast-Beat-Part bekommt man im dritten Stück zu hören. Erneut also ein sehr ungewöhnliches Album, was auch durch die Spieldauer der einzelnen Stücke unterstrichen wird (das dritte geht fast eine halbe Stunde), dessen Schöpfer (Fredy Schnyder schreibt nach wie vor alle Songs und Texte) sich offenbar nicht im Geringsten um irgendwelche Genregrenzen schert.

"Andromeda Awaiting" (2010) ist dann im krassen Gegensatz zum Vorgänger fast ausschließlich mit nicht elektronisch verstärkten Instrumenten eingespielt worden (lediglich eine kaum verzerrte E-Gitarre kommt ab und zu zum Zuge und erinnert ein wenig an ältere OPETH, dies war auf dem Vorgängeralbum auch schon öfter zu hören). Ich würde hier von einer Mischung als Neofolk, Neoklassik, World Music und Jazz sprechen - gänzlich ohne typische Rock- oder Metalelemente.
Neben den auf "Knell" benutzten Instrumenten gibt es hier auch noch eine Kirchenorgel und Saz Baglama zu hören (letztere sorgt zusammen mit Oud für einen verstärkt orientalischen Touch bei einigen Stücken) die Produktion wirkt (nicht zuletzt auch durch das fehlen verzerrter E-Gitarre) sehr natürlich, transparent und dynamisch und ist wirklich etwas für absolute Feinschmecker!
Trotz nicht vorhandener Härte muss man hier keinesfalls befürchten, dass die Musik kontrastlos vor sich hinplätschert, es passiert viel in den Stücken, die bis zu 16 Minuten lang gehen. Allerdings haben sie eine eher ruhige, entspannende Wirkung, die zum Träumen einläd und einfach perfekt für dunkle Herbst- und Winterabende ist. Aufmerksames Zuhören ist hier jedoch sicher besser, als die CD nebenher laufen zu lassen, denn eingängig ist das alles trotz Atmosphäre nicht wirklich. Die Band scheut sich auch nicht, mal fast minutenlang nur die Flöte einzusetzen, meist sind aber mehrere Instrumente in den unterschiedlichsten Zusammenstellungen zu hören, sodass sich auch hier eine enorme Dynamik entwickelt. Auch improvisiert wirkende Passagen gibt es, aber atmosphärische Melodien und Klangkulissen bestimmen trotz aller Komplexität das Bild, sodass auch Jazz-Ablehner gefallen an dem Album finden dürften (sofern eine Affinität für ruhigere, folk-artige Musik vorhanden ist).

2011 erschien bereits mit " Golden Age" eine weitere Scheibe. Und natürlich ist auch diese wieder anders als der Vorgänger.
Wurlitzer Electric Piano, Saxophon, Oboe etc. hört man hier neben vielen Instrumenten der Vorgängeralben.
Außerdem gibt es nun auch gesanglich verstärkung für Maria D'Alessandro und Patrick Schaad, in Form von Christian Kolf (der hier tatsächlich einen kurzen Growl-Part übernimmt) und Anna Murphy, die sonst bei ELUVEITIE singt - aber keine Angst, hier gibt es musikalisch nichts Kitschiges und soundtechnisch ist auch dieses Album natürlich wieder alles andere als Plastik, außerdem macht Anna einen wirklich hervorragenden Job.
Überhaupt werden hier erneut alle Register der Komponierkunst gezogen, die Stücke sind trotz aller Atmosphäre in ihrem Verlauf oft ziemlich unvorhersehbar, man weiß nie, was als nächstes Passiert (oft auch nicht, wann ein Stück zu Ende ist). So sind die ersten drei Stücke, wie schon auf dem Vorgängeralbum allesamt sehr ruhig (von denen das erste am ehesten als ruhiger, folk-beeinflusster Progressive Rock bezeichnet werden kann, inklusive Opeth-artiger, sphärischer Leadgitarre), das vierte ist nach einem eher neofolkartigen und einem ruhig-jazzigen Stück wieder etwas "prog-rockiger", während im fünften dann nach einem ruhigen Anfang unvermittelt auch eine sehr Harte E-Gitarre zu hören ist (allerdings ebenfalls nur sparsam eingesetzt und - wie fast immer bei Nucleus Torn - in gemäßigtem Tempo). Auch hier ist es natürlich wieder ein enorm spannender Wechsel aus ruhigen und harten Passagen, auch sehr dramatische Momente, welche bei mir ordentlich Gänsehaut erzeugen kommen des Öfteren! Das Finale des Albums ist dann einfach nur mächtig!

Letztes Jahr erschien mit "Street Lights Fail" der erste Teil, der als Abschluss geplanten Zwillingsalben (der nächste Teil soll noch diesen Sommer kommen und "Neon Light Eternal" heißen).
Ja, Fredy hat vor, NUCLEUS TORN hiermit zu Grabe zu tragen, was ich schade, aber sehr konsequent finde - er meint, er habe nun musikalisch alles gesagt und ohnehin erstmal keine Zeit für Musik. Nun - wenn das kommende, letzte Album ebenso genial wird wie dieses, verstehe ich ihn.
Es ist zwar eine durchaus harte Nuss, die es sich aber zu knacken lohnt (es hat bei mir sicher 10 Durchläufe gedauert, bis ich es so richtig großartig fand, vorher gefielen mir die auch schon sehr ungewöhnlichen aber irgendwie dennoch etwas zugänglicheren Vorgängeralben besser). Leider gibt es hier nur knapp 39 Minuten Spielzeit auf drei Stücke verteilt, von denen das erste und das letzte sehr ruhig sind, das zweite aber so plötzlich ohne Vorwarnung mit harten Gitarren anfängt, dass man beim ersten Hören fast vom Stuhl fällt (übrigens abermals eine großartige, extrem dynamische Produktion).
Es ist einfach unmöglich in Worte zu fassen, wie sich die Musik hier abermals zum Vorgänger verändert hat, und dennoch alles eindeutig nach NUCLEUS TORN klingt. So möchte ich auch hier nicht viel zur Musik schreiben, außer, dass hier erstmals alle Gesangsparts von Anna Murphy kommen, was aber absolut nicht eintönig wirkt, da sie eine wirklich fantastische Arbeit abgeliefert hat und deutlich vielseitiger geworden ist. Die Instrumentenvielfalt ist auch ein wenig zurückgefahren worden, aber hört es euch einfach selbst an! Reinhören in einzelne Stücke dürfte allerdings nicht immer den richtigen Eindruck vermitteln, da die Songs untereinander oft zu unterschiedlich sind und auch oft erst im Albumkontext ihre volle Wirkung entfalten.
Hier könnt ihr euch ein Bild von der Musik machen:
http://nucleus-torn.bandcamp.com/
Ich selbst komme tatsächlich immer mehr zu dem Schluss, dass ich keine genialere Musik aus den letzten 5 bis 10 Jahren kenne, bin wirklich extrem gespannt aufs kommende, letzte Album!
Hier ist übrigens noch ein sehr aufschlussreiches Interview mit Bandkopf Fredy Schnyder, der sich selbstbewusst und manchmal auch ein wenig kurz angebunden gibt (was bei einigen der Fragen aber irgendwie auch verständlich ist), außerdem bekommt man hier einen kleinen Einblick in seinen sehr vielseitigen Musikgeschmack, der einem klar werden lässt, wie solch eigenständige Musik zustande kommen konnte:
http://www.lordsofmetal.nl/en/interviews/view/id/5144
https://www.facebook.com/nucleustorn.official?fref=nf