von dawnrider » 21. November 2015, 17:52
Blind Guardian - Beyond The Red Mirror
Spätestens jetzt halten mich wohl fast alle hier für noch bekloppter, als sie das bislang schon getan haben. Tatsache ist aber, dass ich, seit ich die Liste für meinen Jahresendspurt zusammengetragen habe, mich auf den Moment jetzt freue: ich lege nach einiger Pause ein Album wieder auf, das im ersten Quartal meinen Player für Wochen belegt hat.
Ich bin großer Blind Guardian-Anhänger. Und dazu noch von der seltenen Sorte, die nicht nur die Alben drei, vier und fünf zu schätzen weiß. Im Gegenteil, ich kann – trotz der herausragenden Stellung dieser drei Ausnahmeplatten – jedem einzelnen Album etwas abgewinnen. Selbst den vermeintlich schwächsten Outputs (dem Debut, „Follow The Blind“ und „A Twist In The Myth“) könnte ich nicht weniger als 7,5 Punkte geben.
Der diesjährige Erguss überflutender Kreativität ist meines Erachtens das beste Blind Guardian-Album seit der „Imaginations From The Other Side“. Und das hat sogar mich enorm überrascht. Nach dem guten Vorgänger hatte ich mit einer ordentlichen Scheibe gerechnet, aber niemals mit einer, die an der Perfektion kratzt.
Was passiert, wenn ich auf „play“ drücke: das chorale Intro des monströsen Openers fesselt mich sofort. Dann die perfekt eingebundenen, immer noch dezenten, aber bei dieser Band noch nie gehörten elektronischen Spielereien, die einen wichtigen Kontrapunkt zu den Chören setzen, bis Hansi mit seiner allem Anschein nach im Alter immer facettenreicher werdenden Stimme die Federführung übernimmt, um nach gerade mal drei Minuten einen unsterblichen Refrain rauszuhauen, der sich absolut auf Augenhöhe mit den größten Songs der Bandgeschichte befindet. Und diese Orchesterarbeit, ich kenne keine Band, die eine so organische Verbindung schafft. Dann dieser tolle Mittelpart, in dem so viel instrumental auf allen ebenen passiert, dass es bei den ersten Durchläufen noch hektisch und zerfahren wirkt, sich aber jedes mal ein Stückchen mehr erschließt. Das sind neuneinhalb Minuten größtes Breitwandkino, die sich gerade mal wie drei Minuten anfühlen und sofort danach schreien, nochmal gehört zu werden. Wäre da nicht gleich im Anschluss die oldschoolige Abfahrt „Twilight Of The Gods“.
Und schon stecke ich Mitten im Album fest, werde von einer geilen Melodie nach der anderen getriggert.
Das Album versprüht mit Sicherheit keinerlei Rock'n'Roll-Spirit, ist nicht ansatzweise erdig oder rebellisch. Wer dieses Element in seiner Musik grundsätzlich braucht, muss hier keine einzige Minute Lebenszeit investieren. Mir ist das aber Schnuppe, wenn ich dieses unglaublich dicht arrangierte, von vorne bis hinten vor musikalischen Ideen strotzende Album höre, geht mir das Herz auf. Die Kritik an der Produktion kann ich auch nicht nachvollziehen. Die Gitarren klingen gut, die Drums haben die nötige Präsenz, der Gesang ist perfekt verzahnt, ich würde es nicht anders wollen.
9.5 Ein Album für die Dauerrotation. Kratzt am Klassikerstatus.
Ich war mir Anfang 2015 recht sicher, dass mein persönliches Album des Jahres bereits am 30.01. erschien, und das es nicht im Geringsten SMB-kompatibel ist. Ich konnte nicht absehen, dass noch mindestens 2 weitere Alben auf Augenhöhe sein werden – wenn auch ganz anders gelagert – und ein Diamant in meiner Gunst noch höher stehen wird.