Nightwish: Oceanborn
Es gibt alle Jahre wieder Bands die nicht klingen wie ihre
Genre-Vorgänger und deren Musik trotzdem sofort als hochwertige Metallwahre erkennbar
ist. Beispiele: die obskure NWoBHM-Kapelle Legend (Jersey), Queensryche (zu
deren Anfangstagen, versteht sich), Vaudeville (Debüt), Leatherwolf, die göttlichen In The Name,
Warlord, Helstar et cetera. Eine
(fast) neue Ausnahmeband aus dem Land der Tausend Seen hat auch dieses gewisse Etwas,dass
sie auf Anhieb in die Kategorie "originell" fallen lässt: Nightwish.
Schon im vergangenen Jahr fielen die vier noch jungen Herren und eine Dame
positiv auf mit ihrem (ursprünglich nur als Demo aufgenommenes) Debüt "Angels fall
first": riffbetontes Kraftfutter à la Stratovarius
bestückt mit sofort erkennbaren Melodien, gesungen von (man höre und staune) einer
jungen Sopranistin namens Tarja. Zwar befand sich unter den von Keyboarder Tuomas quasi im
Alleingang
geschriebenen Kompositionen noch den einen oder anderen Durchhänger; dass hier aber etwas
schönes anwuchs liess sich beim knalligen Einsteiger "Elvenpath" und dem
Uberflieger "Know why the nightingale sings" schon
erahnen. Dass Tuomas selber hier und dort sang (Ein Versuch zu Gothic Metal?) trübte den
positiven Ersteindruck; so klasse seine Kompositionen (und seine eigenwilligen
Texte, auf denen wir noch zu sprechen kommen), so
katastrophal seine Gesangsleistung, besonders wenn man als Hörer zugleich mit einer
derart göttlichen Stimme wie der von Tarja konfrontiert wird. Auf dem Zweitwerk
"Oceanborn" sind gleich beide Mankos des Debüts behoben
worden und voilà: Nightwish haben nicht nur den Knaller des
Monats abgeliefert, sondern dazu ihre ureigenen, originellen Stil beibehalten.
"Oceanborn" versprüht, mehr noch als "Angels fall first", eine
einzigartige
Atmosphäre die sich nur schwer in Worte fassen lässt. Diese epische Metal-Poesie aus dem
ganz hohen Norden hat merkwürdigerweise textlich viele Einflüsse aus der
Pharaonen-Kultur, fasziniert aber zugleich durch etwas
sehr skandinavisch-märchenhaftes und manchmal gar erotisches. Hört sich an als ob wir
hier in sehr Metal-unkompatibelen Wässern fischen, oder? Mitnichten! Eine kernigere,
fetzigere und epischere Metalscheibe muss
dieses Jahr noch erschaffen werden. (Jetzt gibt's eine Kohsiek-Klammerbemerkung, wetten? -
Falsch!! -der Kohsiek)
Jedes Riff ist Metal in Reinkultur, der Doublebass von Drummer Jukka kennt kein Erbarmen,
die Keys/Synths untermalen/akzentuieren in bester Johansson-Manier die fantastischen
Melodien und Sängerin Tarja (schönes
Folkie-Kleid auch...) setzt das ganze mit ihrer Stimme die Krone auf. Der treibende Opener
"Stargazers" (ja; mit "s") ist mit seinem opulenten Chorus schon
wegweisend. "Gethsemane" (mit wunderschön-traurigem Text) bildet das
nächste Highlight und im nachfolgenden "Devil & the deep dark ocean"
erreicht die Band sogar Agent Steel-Geschwindigkeiten ohne
jemals die melodische/harmonische Komponente zu vernachlässigen. Alle Achtung!
Spätestens nach diesen drei Songs wird deutlich dass wir es hier mit einem Highlight
schlechthin zu tun haben, noch dazu so astrein produziert dass jede Nummer wahrlich aus
den Boxen GESCHOSSEN kommt. So ist es dennoch
verwunderlich (und erfreulich), aus dem Nightwish-Interview
in der April-Ausgabe des holländischen Aardschok von Tuomas zu vernehmen dass
"Oceanborn" sich im Heimatland bisher 15.000 mal verkaufte. Wie im Falle
Stratovarius muss Metal also nicht gleich den Kommerztod
bedeuten - im Gegenteil! Aber zurück zur Platte: das Party-taugliche (nicht alberne!)
Instrumental "Moondance" animiert zum Wodka-Trunk und wilden Folktanz,
während der abenteuerliche Epic "The pharaoh sails to Orion" alles beinhaltet
was seinen mystischen Titel verspricht - Exotik pur: "Ruling with the scythe of death
you tear our philosophies apart an ancient starwalk to merge into the stars" Texter
Tuomas hat offensichtlich nicht nur eine kompositorische sondern auch noch eine poetische
Ader, aus der ziemlich ungewöhnliche Gedankengänge und Texte in die Musik
miteinfliessen. Es geht um Liebe, die Natur, um die Beziehung zum hohen Norden und zur
Esoterik. Wenn man den Text zu "Gethsemane" genauer liesst, wird eine Tiefe
erkennbar die man nicht oft in Metal-Texten vorfindet; die in gutem Englisch verfasste und
bilderreiche Liebesgeschichte erzählt vom glückseligen Leiden in einer mystischen Art:
"Toll no bell for me, Father
but let this cup of suffering pass from me
Send me no shepherd to heal my world
but the Angel - the dream foretold
Prayed more than thrice for You to see
The wolf of loneliness in me
... not my own will but Yours be done"
Auf "Oceanborn" verfolgt Tuomas textlich zwar noch hier und da die leicht
skurrille Spur seiner "Nymphomaniac Fantasia" vom ersten Album (z.B. in
"Passion & the Opera" und "Swanheart"), aber seine Lyrik ist
mittlerweile
ausgereifter und passt somit besser zur Musik. Schlusstrack auf "Oceanborn" ist
der Cover "Walking in the air", das Thema
aus dem Zeichentrickmärchen "The Snowman" (damals ein kleiner Radiohit). Die
klare, souveräne Stimme Tarjas scheint wie geschaffen für dieses äthärische Stück und
so entführen die vier Finnen am Omega dieses Albums
auch den letzten Träumer endgültig in eine schneebedeckte Ferne. Wer - wie ich -
Gothic-Metal-Kitsch wie Theatre of Tragedy nichts abgewinnen
kann, wer den Abgang The Gatherings aus dem Metallager
bedauert und Lacuna Coil
ein wenig zu leicht/einfallslos sind, dem sei diese finnische Truppe (mit grosser Zukunft)
wärmstens empfohlen.
A grand opera of northern metal magic - das ist "Oceanborn."
(c) 1999, Oliver Kerkdijk