Running Wild : Victory
Verdammt schwer für mich, diese Scheibe objektiv zu beurteilen. Schließlich zähle ich Running Wild schon seit Jahren zu meinen absoluten Faves, und doch konnten mich die Hamburger nach "Black Hand Inn" nicht mehr wirklich begeistern. Stiltreue hin, Überzeugung her - vieles an "Masquerade" und "The Rivalry" war für mich die zum x-ten Male aufgewärmte Mahlzeit: nicht übel zwar und oft an die ursprüngliche Frische erinnernd, aber doch alles so ähnlich schon mal besser dagewesen. Das soll nicht heißen, daß beide Scheiben nicht ihre glorreichen Momente hatten - insbesondere die "Rivalry" hatte mit Übersongs wie "Ballad of William Kidd" oder dem göttlichen "War And Peace" einige derselben - nur gingen sie viel zu oft nahtlos in 08/15-Material wie "Resurrection" oder "Agents Of Black" über, das Rolf eigentlich mittlerweile im Schlaf schreiben können müßte.
Zwei Jahre später also die erste Running Wild im neuen Jahrtausend (oder doch nicht, Michael? ;-)). Hat sich was geändert? Jau, doch erstaunlich viel. Genug? Fürchte, nein.
Offensichtlichste Wandlungen: Kein Marschall-Cover diesmal, stattdessen ein stimmungsvolles Foto; außerdem ist Drummer Jörg Michael nicht mehr dabei. Während mir ersteres ziemlich egal ist, fehlt mir Jörgs kraftvolles Drumming doch ziemlich. Der Drumsound klingt kalt und mechanisch und läuft irgendwie neben den anderen Instrumenten her - ein echter Rückschritt im Vergleich zur "Rivalry".
Im Gegensatz dazu muß der Geniestreich schlechthin wohl das Beatles-Cover "Revolution" sein, das zu 'ner waschechten Running Wild-Nummer umgesetzt wurde. Nur klasse! Ebenso offensichtlich als Hits entpuppen sich das epische "Tsar" (auch wenn der Titel "War And Peace, Part II" musikalisch wohl treffender wäre) und das hymnenhafte, abschließende Titelstück. Interessanterweise sind das auch die Songs, die für die Running Wild-Platten der letzten Jahre stehen.
Der Rest der CD läuft erstaunlicherweise auf ein anderes Konzept hinaus - back to the roots ist angesagt. Ein simplerer Songaufbau mit geradeaus rockenden Stücken, mehr Groove, weniger Speed um jeden Preis. Allgemein sind die Bandklassiker "Gates to Purgatory" oder "Under Jolly Roger" ein guter Anhaltspunkt dafür, was gerade abgeht. Da reitet "The Hussar" (Hit!) zu ähnlichen Rhythmen in die Schlacht wie einst "Genghis Khan" oder der Maiden-sche "Trooper", da fühlt man sich in "Timeriders" in einem mitreißend gespielten Twin-Guitar-Solo wieder an den "Under Jolly Roger"-Rausschmeißer "Merciless Game" erinnert, und auch die kommerziellere Nummer "When Time Runs Out" erinnert deutlich an die älteren Alben.
Wieso bin ich dann jetzt nicht am Jubeln, bis der Arzt kommt? Ganz einfach: das Album hat für Running Wild-Verhältnisse einen fast schon katastrophalen Anteil an nichtssagenden, am Ohr vorbeirauschenden Chorussen und Riffs. Mag auch vom Stil her viel an die frühen Bandklassiker erinnern, die Qualität des Songwritings tut es definitiv nicht. Außer den drei eingangs genannten Songs, "The Hussar" und eventuell noch "When Time Runs Out" ist mir auch nach mehrfachen Durchläufen kaum was im Ohr geblieben - die Tatsache, daß ich oben ein Gitarren-Solo anspreche, sagt eigentlich schon einiges aus. Und das ist ganz klar auch ein Resultat des Fließband-Songwritings, das ich auf den letzten Platten leider feststellen mußte - übrigens auch im lyrischen Bereich. Wenn ich das nächste Mal einen Text über die "final battle" und die "Blackened Souls" lesen muß, dreh' ich durch...
Das kommt jetzt alles wahrscheinlich negativer als geplant rüber - trotzdem ist die "Victory" für eingefleischte Running Wild-Fans natürlich ein unentbehrlicher Kauf - schließlich habe selbst ich alter Meckerfritze immerhin fünf sichere Hits finden können, zusätzlich ein paar nette Momente im Rest des Albums. Neuen Metalfans jedoch, die die Band erst mal anchecken wollen, rate ich allerdings zum Kauf eines der älteren Alben, insbesondere "Death Or Glory", "Black Hand Inn" oder das geniale Debüt, "Gates to Purgatory".
(c)2000, Ernst Zeisberger