Sacred Metal Page > Sacred Reviews > Pop Corner > Fiorella Mannoia/Certe piccole voci - Live

Fiorella Mannoia/Certe piccole voci - Live (Harpo/Sony Italia;
Italien-Import)

Aufgewachsen bin ich mit dem Radio der Siebziger und frühen Achtziger. Von
deutschen Schlagern über Pop und Rock bis hin zu Metal waren fast alle
verschiedene Musikrichtungen einmal im Radio vertreten. Tagsüber gab's
meist mehr oder wenig erträgliche Hitparadenkost (quasi alles von Donna
Summer bis Heart), abends und nachts liefen die speziellen Sendungen wo LPs
in Bereichen wie Country & Western, Folk, Hardrock/Metal, Filmmusik usw.
vorgestellt wurden. Da ich an der deutsch-niederländischen Grenze aufwuchs
hörte ich im deutschen Radio seit jeher auch Musik aus Italien. Meine
Italienisch-Kentnisse waren (und sind noch immer) fast non-existent, und
ich verstand ohne Wörterbuch wenig von dem was da gesungen wurde, aber
diese Musik hatte etwas faszinierendes. Die oft melancholischen Melodien
mochte ich auf Anhieb, das Handwerkliche der Musik ebenso.
Heutzutage wohne ich in Amsterdam, höre seit Jahren kein Radio mehr und
versuche, den ganzen Scheiss der heutzutage als Musik bezeichnet wird zu
meiden. Das ist alles andere als einfach: ich wohne und arbeite im Zentrum
der Hauptstadt und bin quasi eingeschlossen von Leuten die den DJ als das
Mass aller Dinge sehen und keine Ahnung haben von dem was sich ausserhalb
des gerade Angesagten abspielt. Meine Vorliebe für Qualitätsmusik aus
Italien ist aber geblieben; Amedeo Minghi, Enrico Ruggeri, die göttliche
Alice (die ich auf ihrer "Park Hotel"-Tour '87 in der Stadthalle Osnabrück
live erleben durfte), Franco Battiato, Mietta, Patty Pravo, Ivano Fossati
(für mich der Cantautore schlechthin) und viele andere Interpräten (aber
hallo; ein offizielles ZDF-Hitparade-Wort mit Dieter Thomas
Heck-Gütesiegel!) befinden sich in meiner Plattensammlung, zwischen
Helstar, Juggernaut, Angelwitch, Beethoven, Maria Callas und Vicky Leandros
(kein Witz; ich besitze fast alles bis '75 von ihr auf Vinyl - jetzt is es
also endgültig aus mit meiner Glaubwürdigkeit, hahaha).
Wozu diese ganze Geschichte? (Jetzt folgt Herr Kohsieks
Klammerbemerkung...) Sehr einfach: ich möchte mal den Piraten spielen und
mit zeitlos guter aber leider fast unbekannter Musik das Sacred
Metal-Schiff entern. Wo Loreena McKennitt, Tori Amos, Judie Tzuke und
Projekte wie Blackmore's Night schon Fans in der harten Gemeinde haben,
könnten auch andere folgen, vorausgesetzt sie stehen für handgemachte Musik
ohne negativen Zeitgeist (Sample-Uberdosis, mechanische Beats,
R&B-Schleimspuren, Happy-Dance-Shit; ihr wisst schon). Intensiv, melodisch
und traditionell muss sie sein, diese Musik, sprich: Herz und Seele haben.
Und mit wem könnte ich besser diese kleine Serie längere Reviews (siehe
auch Lara Fabian) anfangen als mit der italienischen Sängerin Fiorella
Mannoia?
Aussergewöhnlich ist sie in mehreren Hinsichten, die in Rom geborene aber
seit Jahren in Milano wohnhafte Fiorella Mannoia. Seit 1968 im
Musikgeschäft, dauerte es bis 1981 bis sie vom grossen (italienischen)
Publikum während des San Remo-Festivals (quasi das Italo-Songfestival)
richtig aufgenommen wurde. Damals - wie Alice - noch eine Sängerin die es
eher in der leichteren Popmusik suchte, war es nicht nur ihr selbst klar
dass sie zu mehr imstande war: ihre, für eine Frau, eher tiefgelegte Stimme
kam erst recht zur Geltung als sie Lieder verschiedenen Cantautori (die
Italo-Fassung des Singer-Songwriters) sang. Erhaben und zutiefst
melancholisch, harmonierte diese einzigartige Stimme hervorragend mit dem
poetischen, typisch südländischen Songmaterial. Es dauerte nicht lange bis
Fiorella eine Art "Stimme" für eben diese Cantautori wurde: auf Scheiben
wie "Canzoni per parlare" ('88), die geniale "Di terra e di vento ('89), "I
treni a vapore" ('92), "Gente comune" ('94) und "Belle speranze" ('97)
reicht ihre Palette von Ivano Fossati über Vasco Rossi bis Francesco De
Gregori und sogar Tom Waits. Ihre Platten erreichen in Italien alle
Gold-Status (oder mehr), sie hat (wie Ruggeri, Fossati, Baglioni) einen
fanatischen Anhang und nimmt, nicht zuletzt wegen ihres eher bescheidenen
Benehmens und aussergewöhnlichen Eleganz, eine spezielle Position im
italienischen Musikgeschäft ein. Der Respekt den man der rothaarigen
Römerin gebührt ist in etwa vergleichbar mit dem des französischen
Publikums für die Chansonnière des Saint Germain-des-Prés Juliette Gréco.
Anfang '99 erschien das lange erwartete Live-Doppelalbum "Certe piccole
voci" (benannt nach einer Strophe aus dem von Ivano Fossati komponierten
"Le notti di Maggio"), mit Aufnahmen ihrer Italien-Tour 1998 und erweitert
durch Mitschnitte aus den Jahren '92-'95. Der erste Silberling öffnet mit
dem neuen Studiotrack "l'Amore con l'amore si paga", dass von Fossati
geschrieben wurde und mit einer gewohnt fantastischen Melodie versehen ist.
Eine wehmutige Gitarre geht durch diesen Song, der wieder zeigt warum die
Kombination Mannoia-Fossati in diesem Bereich einfach unschlagbar ist. Dann
geht es live los mit einer bittersüssen Fassung des Vasco Rossi-Songs
"Sally", gefolgt von "I treni a vapore" (Die Dampflokomotiven). Die Musiker
(teils aus Ivano Fossati's Band; die lassen nix anbrennen, glaubt mir!)
sind mehr als inspiriert, was bei diesem Vorzeigematerial wohl niemanden
wundern wird. Der Zug-Rhythmus in "I treni a vapore" bekommt man mit
Percussion und Bass haargenau hin und Fiorella's Vokalen sind wie vom
anderen Stern. Um einen Satz aus dem französischen Filmmeisterwerk UN COEUR
EN HIVER/EIN HERZ IM WINTER zu parafrasieren: Voilà une femme touchée par
la grace.
Auffallend ist der von Schreibpartner/Produzent/Gitarrist Piero Fabrizi
fabrizierte warme Live-Sound. Sehr tranzparent klingt das ganze; jedes
Instrument ist klar herauszuhören, was bei sieben Musikern und der
graziösen Fiorella auf einer Bühne keine leichtes Unterfangen gewesen sein
muss. Das Publikum lässt sich allerorts von seiner besten Seite hören; es
herrscht Stille während die Musik klingt und man produziert ein tobendes
Applaus nach jeder Nummer (oder manchmal sogar nach einem Vers, wie in
Italien üblich). Das ist halt die italienische Atmosphäre.
Von der Studioplatte "Belle speranze" (Schöne Hoffnungen) gibt es das
Titelstück (mit einem Text über den Beginn eines Sommers) und das
ironische, von Fabrizi komponierte "Non sono un cantautore". Ironisch, weil
Fiorella zwar keine Singer-Songwriterin ist aber dennoch als solche gesehen
wird. Unmöglich, bei dieser Nummer still zu sitzen; sie hat das gleiche
Sonnenschein verbreitende Feeling wie ein guter AOR-Song der Marke Magnum,
Axe oder Dare, obwohl sie stilistisch damit nicht mal am Rande etwas zu tun
hat.
Eine der Mannoia-Klassiker ist in einer traumhaften Fassung auf "Certe
piccole voci" vertreten: das von Piero Fabrizi verfasste "Normandia" (von
der '94er Scheibe "Gente comune"), über - man ahnt es schon - die Landung
der Alliierten am 6. Juni 1944:
"Li abbiamo visti cadere in silenzio
in un volo irreale
erano tanti e scendevano lenti come neve sul mare"
(Wir sahen wie sie aus der Luft fielen, still
in einem irrealen Flug
es waren soviele und sie landeten langsam, wie Schnee auf dem Meer)
Das auf "Di terra e di vento" im Duett mit Ivano Fossati gesungene "Oh che
sarà" bewältigt Fiorella live alleine; ausserdem wird es hier von Danilo
Rea mit einem subtilen Piano-Stück eingeleitet.
Die zweite Platte enthält älteres Material (das schöne "Sorvolando Eilat"
und den '87er Radio-Hit "Quello le donne non dicono") sowie neuere Sachen
wie das ansteckende "Crazy boy". Ausserdem sind mit der Ballade "Lunaspina"
(Dornenmond) und dem Klassiker "Ascolta l'infinito" zwei meiner
Fiorella-Faves vertreten.
Natürlich ist das klassische Handicap der Live-Scheibe auch hier nicht ganz
abwesend; man vermisst den oder diesen Song ("Che vita sarai", das traurige
"Tutti cercano qualcosa"), aber es soll bekanntlich immer was zu wünschen
übrig bleiben. Wie einen Abstecher nach West-Europa, zum Beispiel...
Das Booklet ist gewohnt elegant und schlicht aufgemacht (man wünscht sich
insgeheim ein Megaposter, aber das passt so überhaupt nicht zu Fiorella)
und die Aufnahmequalität könnte wie gesagt nicht besser sein. "Certe
piccole voci" versprüht dieselbe mediterrane Magie wie die zwei
Live-Scheiben vom Maestro Cantautore Ivano Fossati "Dal vivo vol. 1:
Buontempo" und "Dal vivo vol. 2: Carte da decifrare" (beide aus '93). Am
besten lässt man sich spät am Abend bei kleinem Licht per Kopfhörer in
diese andere, ferne Welt entführt.
Wer also jetzt neugierig geworden ist, sollte versuchen, sich entweder
dieses Live-Dokument oder eine ihrer oben genannten edlen Studioplatten zu
besorgen. Wer sie nicht im "gut" sortierten Plattenläden findet, versucht
es am besten im Internet bei CD Now oder Amazon. Die Preise der Anbieter
unterscheiden sich oft gravierend von einander, also Augen auf bevor ihr
die Kreditkarte zuckt.
Abschliessend möchte ich noch sagen, dass Fiorella Mannoia's Musik nichts -
ich wiederhole: NICHTS mit billiger Kaufhausware à la Ramazotti oder
Pausini zu tun hat. Fiorella ist für die italienische Musik was Savatage
für den Metal sind: eine Garantie für handgemachte, anspruchsvolle und
somit zeitlose Musik abseits von Trends und vulgärem Business. Es gilt nur,
sie zu entdecken. Denn wer einmal diese Stimme gehört hat, der ist ihr auf
Lebenszeit verfallen.
Grazie, Fiorella.
Oliver.
P.S.
Ein Gruss an Mike "Dottore Giallo" Lebbing, der mir "Certe piccole voci"
von seiner Firenze-Reise mitbrachte. Lo spirito continuà!

(c)1999, Oliver Kerkdijk