Die für einen Metalfan vielleicht untypische Liebe zum europäischen Kino habe ich schon seit einer halben Ewigkeit. Ich wuchs auf mit Hammer-Horrorfilmen aus Gross-Brittannien, Krimis und Komödien aus (West-)Deutschland, mit Italowestern, Jugendfilme aus Skandinavien und Gangsterdramen und Film Noir aus Frankreich. Die amerikanischen Filmen (vor allem die aus Hollywood) hatten bei mir schon immer einen (verdient) niedrigen Stellenwert. Denn: warum sollte man sich Hamburger antun, wenn es Carpaccio, Sushi oder Foie Gras gibt? Eines meiner "genres favorisés" ist der französische Film Noir und seine verwandten Gattungen (ein "policier" ist nicht per Definition ein Gangsterfilm, und vice versa). Vor allem die Filme aus den Fünfzigern und Sechzigern faszinieren mich seit jeher; da durchdringt der Laternenschein nur schwer das Paris im Nebel, da werden grosse "Jobs" bis ins Detail von älternden Gangstern geplant in ebenso nebulösen Nachtclubs um Pigalle. Da wissen der einsame Polizeikommissar und das Gangsterliebchen, dass in dieser Nacht das Schicksal ihren Lauf nehmen wird. Ja; das war und ist für immer grosses Kino, grösser als das Leben selbst, wo jeder Tag ein Antiklimax zu sein scheint und die Zeit abläuft ohne Höhen und Tiefen. Es sind die Nachkriegsjahre der Wiederaufbau; Westeuropa arbeitet, damit sie ihre Lebensqualität erhöhern und den tiefen Riss des Zweiten Weltkrieges bedecken kann. Gutes Essen und Trinken, Massanzüge, Luxuskarosse, grössere Häuser, Kabaretts, Cafés und Kinos, die ersten Ausflüge in andere Länder - da wächst eine neue Welt an. Die Gangster und Kommissare der Noir-Filme aber, sie gehören eigentlich nicht zu dieser Gesellschaft; sie sind quasi die Archetypen des Aussenseiter-Mythos. Sie stehen sich, wie im klassischen Western, auf ewig in diesen dunklen, oft melancholischen Filmen gegenüber und das biedere Volk hat keine Ahnung dass, nachts wenn sie sich zur Ruhe gelegt hat, sich im Herzen der Seine-Metropole eine wiederholte Tragödie abspielt. Das Akkordéon vermischt sich mit einer kleinen Jazz-Band, die Mundharmonika fügt sich der nächtlichen Szene irgendwo auf Montmartre, einige sinisteren Takte auf dem Kontrabass deuten an, was da kommen wird - und es wird nichts Gutes sein. Diese Musik erzeugt wie kaum eine andere (die der Italowestern mal ausgenommen) eine Atmosphäre. Sie widerspiegelt den Geist der damaligen Zeit, wogegen es heutzutage das Gros der Filmkompositionen nicht mal ansatzweise schafft eine Atmosphäre überhaupt zu schaffen. Das Pariser Label Play-Time (Eigentum von FGL Productions, das auch die Axekiller-CD-Wiederveröffentlichungen von z.B. Sortilège, Warning und Queensrÿche im Katalog hat) kommt jetzt mit einer Kompilation auf der es 73 Minuten lang heisst: "à la recherche du ciné perdu". Aus 17 Filmen (und einer TV-Serie) der goldenen Kino-Zeit hat man die markantesten Stücke und schönsten Themen ausgesucht und mit passend nostalgischem Booklet das Ganze als limitierte Auflage von 2000 Stück herausgebracht. Wer Namen wie Ventura, Gabin, Blier, Melville, Becker, Dassin und Verneuil etwas sagen, weiss welche Klangreise ihnen mit "Du rififi au ciné" bevorsteht. Es geht tief in die endlose Nacht hinein, in die Nachtclubs, Kabaretts und Spielhöhlen des Pariser Milieus (und manchmal in die Tristesse von Marseille, Nice, Lyon). Die jazzige, verspielte (und manchmal recht sonnige) Musik von Komponisten wie Michel Magne (MELODIE EN SOUS-SOL, SYMPHONIE POUR UN MASSACRE), Paul Misraki (LE DOULOS, MAIGRET TEND UN PIEGE) oder Georges Garvarentz (DU RIFIFI A PANAME) erzeugt im Kopf des geneigten Hörers eine schwarz-weisse Bilderreihe der nostalgischen Art. Mal fortissimo, mal moderato; kein Tempo und kein Effekt wird ausgelassen wenn es darum geht, die Spannung aufzuführen oder etwas Unerwartetes zu untermalen. Nicht selten redet die Liebe ein Adagio-Wort mit und dann fühlt man erst recht, dass damals die Franzosen wussten wie man das Filmleben gestaltet. Zwischen Gangstern und Polizisten gab es ja, zumindest im Kino, damals eine Verbundenheit: während des Spiels war fast alles erlaubt, damit etwas (aber möglichst viel) Spannung in dieses graue, kleinbürgerliche Leben kam. Sie wussten alle, dass sie es nicht bis ans Ende der Nacht schaffen würden, aber sie versuchten es mit Stil und das kann man von den heutigen billigen Filmgangstern und Filmpolizisten ohne Charisma nicht sagen. Besonders hervorzuheben auf dieser wohl einmaligen Wiederveröffentlichung sind die vielschichtigen Stücke Georges Delerues (1925-1992); das jazzig-spannende Thema zum Claude Sautet-Film CLASSE TOUS RISQUES (1960), die Komposition zur Eröffnungsszene der Krimi-Komödie DES PISSENLITS PAR LA
RACINE - man fühlt sich ins sonnige Paris von 1963 zurückversetzt - oder das traurige "Adagio" aus LUCKY JO (1964) sind beispielhaft für zeitlos gute Filmmusik. Ich weiss; diese CD ist wohl nur etwas für Gourmets, Paris-O-Phile und hoffnungslose Ciné-Nostalgiker (ich bin also gleich dreimal schuldig). Die Amerikanisierung und das Desinteresse der Europäer an der eigenen populären Kultur haben dazu geführt, dass diese Filme und ihre Musik in Vergessenheit geraten sind. Der belgische Soundtrackhändler der mir auf einer Plattenbörse diese CD in die Hände drückte sagte mir, es gäbe nur noch eine Handvoll Sammler die sich für Filmmusik aus Europa interessieren. "Science Fiction- und Actionfilm-Scores aus den USA wollen die Leute, und kaum noch etwas anderes." Es wird der Tag kommen, da werden die Europäer aufwachen. Und es wird zu spät sein. Wie im Finale eines klassischen Films Noirs: das Echo der fatalen Schüsse erklingt am Seine-Ufer im Morgengrauen. Das Schicksal hat seinen Lauf genommen. Tenebrae aeternam est.Tout ce qu'il reste, ce sont les souvenirs.
Sollte sich doch jemand für diese Art von Filmmusik interessieren und die CD im Handel nicht finden, hier die Bezugsadresse:
John De Moor
(Specialized in French and Italian soundtracks - LP's/45 RPM's/CD's/Out of
print editions)
Langlaarsteenweg 11
2630 Aartselaar
Belgium
Tel./Fax: (0032)38774105
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