Nach gut zwanzig Sekunden startet die Gitarre mit einer unwiderstehlichen Melodie. Du wirst neugierig - ein kurzer Rhythmuspart - dann setzt der Gesang ein und trägt, unterstützt von einer Akkustikgitarre, die erste Strophe mit einer intensiven und gefühlvollen Stimme vor. Schließlich bohrt sich ein Widerhakenrefrain unwiderruflich in Dein Gehirn: willkommen im dritten Album von Poverty’s No Crime!
Nach der Veröffentlichung des Vorgängers "The Autumn Years", welches als eines der damaligen Jahreshighlights im Progressive-Metal-Bereich durchging, wurde es verdächtig still um die Niedersachsen. Im letzten Jahr ließ man jedoch durch einen famosen neuen Song auf einem von einer bekannten deutschen Rock- und Metalzeitschrift präsentierten Sampler, der die besten Bands ohne Plattendeal vorstellte, aufhorchen. Eben jener ("Access Denied") befindet sich auf "Slave To The Mind" gleich auf der begehrten Pole-Position und macht für die restlichen acht, qualitativ mindestens ebenbürtigen noch folgenden die Bahn frei.
Das allgegenwärtige Keyboard leitet den zweiten Track "The Distant Call" ein, welches zum einen durch abwechslungsreiche Melodieführungen, zum anderen auch durch eine etwas vetracktere Instrumentierung viel Gehör verlangt. Zwei Songs und schon zwei Treffer - das Spiel läßt sich danach beliebig fortsetzen (naja, zumindest bis Track neun vorüber ist...). Kraftvolle Gitarren dominieren "The Senses Go Blind", "A Matter Of Mind" besitzt einerseits etwas modernere Rhythmen, andererseits wieder einen absolut massenkompatiblen Refrain. "Wind And Light" nennt sich die großartige Ballade ohne "typisches" Balladenfeeling, bei dem Sänger Volker Walsemann zeigt, wie vielschichtig er seine Stimmbänder einzusetzen imstande ist. Spätestens mit dieser Veröffentlichung sollte er endlich zur deutschen Sangeselite gezählt werden! "Now And Again", ein an Ten erinnernder reinrassiger Rocker sowie das schöne "Live In The Light" runden schließlich ein wunderbares Album ab, welches man musikalisch (Vergleich müssen ja leider Gottes immer mal wieder als Kategorisierungshilfe herhalten) am ehesten als eine Mischung aus alten Enchant, neueren Fates Warning sowie Threshold, Everon und die erwähnten Ten beschreiben könnte. "Slave To The Mind" ist alles in allem eher ein Melodic- als ein Progressive-Metal-Album geworden.
Für diese Fanschicht dürfte dementsprechend "Slave To The Mind" ein gefundenes Fressen sein. Es gibt gottseidank noch ein paar Individuen, die sich die Zeit nehmen können, in ein Album "hineinzuwachsen", anstatt sich mit billiger Unterstützung teurer Videos und ganzseitiger Hochglanzanzeigen (mit gegenüberliegendem "redaktionellem Interview") vorkauen zu lassen, was sie gefälligst gut zu finden haben. Ach ja, VIVA-Kids: zu diesem Album wird es wahrscheinlich kein Video geben, und eine dadurch in den Charts nach oben schnellende Single wird wohl auch kaum erscheinen. Wurde also durch diese Zeilen überraschenderweise Euer Interesse geweckt, so müsst Ihr den Fernseher aus-, den Verstand einschalten, die Augen schließen und Papis Kopfhörer entstauben, damit einem bisher ungeahnten Hörgenuss nichts im Wege steht (gekauft haben müsst Ihr (oder Mutti) die Platte vorher natürlich auch). Aber auch Ihr anderen jahrelangen Musikliebhaber da draußen, die Ihr ein bißchen Zeit bei Eurem nächsten Plattenladenbesuch erübrigen könnt: Laßt Euch von den beiden auf dem Cover abgebildeten, aus dem Wasser ragenden Armen packen und schenkt diesem tollen Werk einen Teil Eurer Aufmerksamkeit! Es könnte sein, dass Ihr danach eine längere Zeit nichts anderes hören wollt...
(c)1999, Michael Kohsiek