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Anathema : Judgement

Adieu, sommerlicher Leichtsinn; Bonjour, Tristesse. Obwohl der Stil der
britischen Kapelle Anathema sich seit dem Gründungsjahr 1990 stark
verändert hat (von Doom Metal zu etwas ureigenem dass man vielleicht als
Dark Romantic Rock bezeichnen könnte), ist der Grundton derselbe geblieben;
die vier Jungs aus der Arbeitslosenhauptstadt Liverpool inszenieren ihre
musikalische Schwermut aber gezielter.
Mit dem puren Doom ihrer Freunde von Solstice, zum Beispiel, haben die
Anathemas nur noch wenig zu tun, trotzdem gibt es wahrscheinlich keine Band
auf diesem Schattenplaneten, die solch tieftraurige Töne pflegt.
Wurde auf dem Vorgänger "Alternative 4" schon eine weniger metal-lastige
Richtung eingeschlagen ohne den schwarzen Spirit früherer Tage zu
vergessen; es waren eher Ansätze zu etwas anderem. Das neue Poesie-Album
"Judgement" entfaltet erst recht die Einzigartigkeit Anathemas. Hier gibt's keine
halben Sachen, Alternative-Geschrammel oder Orientierungslosigkeit. Was
soviele Truppen des leider Gottes boomenden Gothic-Kitsches vergeblich mit
allerhand Kunstgriffen (tanzbare Rhythmen, piepsende Mädels, rote Rosen auf
weisser Seide - auweiah...) zu bewirken versuchen, schaffen Anathema mit
trügerisch simplen Melodien und ehrlichen, in einfachem Englisch gehaltenen
Texten: Kunst.
Wer sich ein wenig in der Kunst und Kultur des neunzehnten Jahrhundert
auskennt wird keine Mühe haben, hier die legitimen Nachfolger der
Romantiker zu erkennen. Ihre Sprache ist nicht die der Finsternis
schlechthin, sondern die der Abenddämmerung. Wirkungsvoll jedes Riff
(insofern man von Riffs sprechen kann), ergreifend jede Melodie. Die beiden
Cavanaghs, Vincent und Danny, lassen die Gitarren weinen - spätestens bei
"One last goodbye" holt man das Taschentuch hervor. "Judgement" hat die
Melancholie hinter sich gelassen, hier herrschen nur noch Tod und Trauer,
und das kommt nicht von ungefähr: in 1998 verstarb die Mutter der Gebrüder
Cavanagh.
Es wäre nützlos, einzelne Songs hervorzuheben; alle sind auf demselben
hohen Niveau. Doch der schönste Track des Albums (und vielleicht des
bisherigen Anathema-Schaffens) muss einfach erwähnt werden: im "Parisienne
moonlight" funkelt ein tiefschwarzes Juwel, das ihresgleichen sucht. Diese
von Vincent Cavanagh und Sängerin Lee Douglas im Duett intonierte Elegie
macht den meisten Gothic-Metalkitsch überflüssig. Fortan werde ich sie als
Begleitmusik verwenden beim Lesen der Romane meines französischen
Lieblingsautors Patrick Modiano. Modiano, der Melancholiker schlechthin
dessen fast komplettes Oeuvre sich in einem stillen, verstaubten Paris
abspielt, wo nur die Erinnerungen bleiben und oft nicht mal die.
Mit einem warmen, sauberen Sound versehen wurde "Judgement" von Kit
Woolven, der auch Magnums Klassiker "On a storyteller's night" produzierte.
Woolven hat seit "Alternative 4" erkannt, dass er den Gesang schön so
stehen lassen kann wie ihn Vincent aufs Band bringt; natürlicher geht es
kaum noch und das passt hervorragend zu der Musik und Atmosphäre. Die
Erstauflage kommt übrigens im Digipack und hat als Bonus das nicht zu
überhören Instrumental "Transacoustic".

(c)1999, Oliver Kerdijk